Hyperbolisches Diskontieren

Hyperbolisches Diskontieren kommt aus der ökonomischen Forschung. Es kann aber auch auf viele andere Bereiche angewendet werden. Den Mechanismus dahinter kannte ich schon, Sie wahrscheinlich auch, zumal es sehr logisch ist. Den Begriff dazu habe ich aber erst in einem Buch von Cory Doctorow (Little Brother Trilogie, letzter Band, sehr empfehlenswert, kann als PDF heruntergeladen werden) gelesen.

In den Wirtschaftswissenschaften ist die hyperbolische Diskontierung ein zeitinkonsistentes Modell der Verzögerungsdiskontierung. Es ist einer der Eckpfeiler der Verhaltensökonomie und wird von Neuroökonomen aktiv erforscht.
… Entscheidungen, mit der Ausnahme, dass einige Konsequenzen verzögert eintreten und daher antizipiert und diskontiert werden müssen (d. h. neu gewichtet werden müssen, um die Verzögerung zu berücksichtigen).

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Bei zwei ähnlichen Belohnungen ziehen Menschen diejenige vor, die früher als später eintrifft. Man sagt, dass Menschen den Wert der späteren Belohnung um einen Faktor reduzieren, der mit der Länge der Verzögerung zunimmt.

Zahlreiche psychologische Studien haben inzwischen gezeigt, dass wir Belohnungen zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich bewerten. Kurzfristig sind wir ungeduldig und bevorzugen sofortige, kleinere Belohnungen. Aber auf lange Sicht sind wir geduldig und bevorzugen entferntere, größere Belohnungen. Ein klassisches Experiment veranschaulicht es gut.

George Ainslies Forschung zeigte, dass eine beträchtliche Anzahl von Probanden angab, dass sie 50 Dollar sofort gegenüber 100 Dollar in sechs Monaten bevorzugen würden, aber NICHT 50 Dollar in drei Monaten gegenüber 100 Dollar in neun Monaten, obwohl dies die gleiche Wahl in drei Monaten größerem Abstand war. Noch signifikanter ist, dass die Probanden, die angaben, dass sie 50 Dollar in drei Monaten 100 Dollar in neun Monaten vorziehen würden, angaben, dass sie NICHT 50 Dollar in 12 Monaten 100 Dollar in 18 Monaten vorziehen würden – wiederum dasselbe Paar von Optionen in unterschiedlichem Abstand -, was zeigt, dass der Effekt der Präferenzumkehr nicht von dem Wunsch abhängt, eine sofortige Belohnung zu erhalten. Er hängt auch nicht von der menschlichen Kultur ab; die ersten Befunde zur Präferenzumkehr wurden bei Ratten und Tauben erhoben.

https://en.wikipedia.org/wiki/Hyperbolic_discounting🇬🇧

Je weiter also eine Belohnung in die Zukunft reicht, desto mehr neigen wir dazu, ihren Wert (im Kopf, unbewusst) zu mindern. Und das ist unabhängig von der Inflation (SCNR)😀. Die kurzfristigen Annehmlichkeiten, einen Kuchen zu essen, einen schönen Menschen flach zu legen oder mit einem neuen Daten-sendenden Telefon im Internet zu surfen, überwiegen die langfristigen Sorgen und Bedenken. Im umgekehrten Fall sind die langfristigen Vorteile einer gesunden Ernährung, Bewegung und des Sparens für den Urlaub oder die Hochzeitsreise weit entfernt und abstrakt.

Dieses Ungleichgewicht veranlasst uns, kurzfristige Freuden jetzt zu wählen und langfristige Vorteile für die Zukunft zu verschieben. Eine Studie über die Kaufgewohnheiten von Lebensmitteln zeigt dies sehr gut: Wenn Menschen morgens online Lebensmittel für die Heimlieferung kaufen, kaufen sie viel mehr Eis und viel weniger Gemüse, als wenn sie die Lieferung für nächste Woche bestellen.

Nun stellt sich die Frage: Wenn es dieses Hyperbolische Diskontieren gibt, gibt es auch das Gegenteil?

Ja. Verzögerte Befriedigung. Es gibt Menschen, die kleinen Belohnungen heute widerstehen können, um die grösseren zukünftigen zu erhalten. Was die Studie nicht sagt, ob das dabei bleibt, wenn die zukünftige Belohnung mal nicht eintrifft.

Beispielsweise hat man Kinder in einen Raum gesetzt und ihnen gesagt, sie können einen Marshmallow jetzt essen. Wenn Sie aber 15 min warten, bekommen sie zwei Marshmallows. Sie durften nichts tun, nur auf dem Stuhl in dem Zimmer sitzen und die Marshmallows anschauen. Die Mehrheit der 4-6 jährigen gab nach 1-1,5 Minuten auf und ass den ersten Marshmallow.

Das Ergebnis Jahre später: Wer einem Marshmallow vorübergehend widerstehen konnte, hatte statistisch gesehen bessere Karrierechancen und mehr Erfolg im Leben. Die Forschung verbindet diese Fähigkeit mit einer Vielzahl positiver Lebensergebnisse wie besseren Noten, niedrigeren Drogenmissbrauchsraten, größerer finanzieller Sicherheit und verbesserter körperlicher und geistiger Gesundheit.

Das menschliche Gehirn ist nicht gut darin, weit entfernte Risiken richtig einzuschätzen. Es ist sinnvoll, den Wert von Dingen, die weit entfernt sind, niedriger anzusetzen. Weil sie ein Risiko beinhalten. Das nennt man Gegenwartspräferenz. Es gibt viele Wege, weit in der Zukunft liegende Ereignisse zu bewerten, sodass sich keine eindeutige Antwort auf die Frage findet, wie hoch der erwartete Profit sein müsste, um Sie zu überzeugen. Ausserdem ticken wir Menschen sehr unterschiedlich.

Es gibt aber auch falsche Präferenzen. Auf eine Feuerversicherung zu verzichten wäre falsch. Sie ist sehr billig und der mögliche Schaden so hoch, dass es verrückt wäre, das nicht zu tun.

Hyperbolische Diskontierung bedeutet, dass Sie etwas fälschlich zu weit abwerten, nur weil es in der Zukunft liegt.

Und genau das sind die Mechanismen, die auch bei der Privatsphäre zutreffen. Wir schätzen die heutigen, aktuellen Bequemlichkeiten durch Google, Apple, Facebook, Amazon, Tinder, WhatsApp, … sehr viel höher ein, als die damit verbundenen Probleme, die in Zukunft dadurch sicher auftreten. Die Probleme von Monopolen, die Probleme der Abschaffung der Privatsphäre, die Abhängigkeit von den digitalen, ausländischen Monopolen uvm.

Firmen wie Apple sind „Too big to fail“, übersetzt: Zu gross um reguliert zu werden. Wir haben zu lange gewartet und nun sind sie grosse Monopole, die nicht mehr kontrolliert werden können. Dasselbe sehen wir auch bei den Einschränkungen der Privatsphäre. Verschlüsselung soll umgangen werden, alles soll überwacht werden. Und das nicht von einem Rechtsstaat, sondern von amerikanischen Firmen.

Das Client Side Scanning ist ein gutes Beispiel für hyperbolische Diskontierung. Die Inhalte sollten auf Ihren Rechnern und Mobilgeräten überwacht werden. Im Moment ist das noch nicht spürbar und es gibt noch sehr wenige Menschen, die die Nachteile spüren. Doch das wird kommen. Aber wenn wir alle überwacht werden, dann ist es zu spät sich zu wehren.

Das erinnert mich an den Frosch im Glas. Schmeisst man ihn in kochend heisses Wasser springt er raus und überlebt. Steckt man ihn in kaltes Wasser und erwärmt es sukzessive, dann stirbt er. So, befürchte ich, wird unsere Privatsphäre, ein Menschenrecht, sterben. Ebenso die Demokratie und der Rechtsstaat. Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird der zukünftige Schaden nicht zu beheben sein. Aber wir werten ihn ab.

Dasselbe haben wir beim Klimawandel gesehen. Seit 1972, dem Bericht an den Club of Rome, wissen wir, dass wir so nicht weiter handeln dürfen. Und haben es trotzdem getan. Bis es für uns spürbarer wurde. Doch jetzt ist es (vielleicht) zu spät. Je nach Sichtweise.

Es gäbe noch mehr Beispiele. Die Kernaussage hier ist: Die Menschen bemerken erst dann, wie schrecklich sich alles entwickelt hat, wenn es sie selber trifft. Doch dann ist es zu spät noch etwas zu unternehmen. Wir müssen handeln, solange wir noch den „Luxus“ haben, etwas unternehmen zu können.

Hier nochmal das Gedicht von Pfarrer Niemöller:

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Pfarrer Martin Niemöller

Übersetzt auf Datenschutz:

Als die Firmen mich überwachten, habe ich geschwiegen; die Services waren zu gut.

Als der Staat die Verschlüsselung verbot, habe ich geschwiegen; ich hatte ja nichts zu verbergen.

Als der Staat die freie Rede einschränkte, habe ich geschwiegen; ich durfte ja nicht mehr frei reden.

Als ich ins Gefängnis wegen eines Posts meiner eigenen Meinung kam haben alle anderen geschwiegen, weil sie Angst hatten.