Marius sass vor seinem e-Book-Reader und lass ein spannendes Buch. Nach der ersten Begeisterung der ersten Kapitel flaute sein Interesse am Weiterlesen ab. Die Seiten, die er pro Sitzung lass, wurden immer weniger. Die Pausen zwischen den Lesephasen wurden immer grösser. Er musste sich immer mehr zwingen, weiterzulesen. Bisher hatte er noch fast jedes Buch zu Ende gelesen.
Dieses Buch, dachte Marius bei sich, hat so gut angefangen. Mann, schade. Es wäre eines der Wenigen, die er nicht zu Ende liest.
Warum auch, dachte er weiter, hat die Autorin nur diesen Arsch in das Kapitel geschrieben. Über den zu lesen und zu sehen, was der alles an Schweinereien unternimmt und damit durchkommt, das macht keinen Spaß zu lesen. Ich habe schon genug Affen in meinem Umfeld, da wäre ein bisschen Positiver doch schön zu lesen.
Er klickte noch eine Seite weiter, lass das Buch aber nicht mehr weiter.
Er loggte sich in seinem Konto, bei dem Buchhändler, bei dem er das Buch gekauft hatte, ein und schrieb eine Rezension.
An einem anderen Ort, zur selben Zeit.
„Klausi Schatz, hast Du heute schon Dein Lesepensum erfüllt?“
„Ja, Mama.“
„Du weißt, wie wichtig es ist, regelmässig zu lesen.“
„Ja, Mama.“
„Du weißt auch, die Schule überprüft das.“
„Klar, Mama.“ Und Du auch, denkt er sich.
Mama Melanie schaut in Ihrer App nach. Seit die Schulen deutschlandweit digitalisiert hatten, waren alle Unterrichtsmaterialien digital und für den bekanntesten und weitverbreitetsten e-Book-Reader verfügbar. Die Schulen und Eltern waren sich sicher, damit die Qualität des Schulunterrichts zu erhöhen. Der gemeinsame Tenor der Schulbehörden, Kindervertreter, Politiker, Eltern und amerikanischen Tech-Großkonzerne lautete: Nur das Beste für die Kinder. Je mehr Daten man über deren schulische Leistungen sammelte, desto besser konnten sie gefördert werden. Das amerikanische Unternehmen Mt Cook belieferte die Bundesländer mit vergünstigten Geräten und wenn Eltern sich das nicht für alle ihre Kinder leisten konnten, dann konnten sie die Geräte für das Schuljahr für 1€/Monat mieten. Außerdem wurden den Kindern bei diesen Geräten nur alle 60 min Werbung und auch nur von Mt Cook oder deren Partnern und auch nur für 30 Sekunden angezeigt. In dieser Zeit konnten sie das Display nicht ausschalten, abdunkeln oder sonstwie deaktivieren. Das Gleiche galt für den Ton. Darauf Rücksicht nehmend passten die Kultusminister die Schulstunden entsprechend an. Schließlich sollte kein Kind zurückbleiben.
Wer die 1€ mal nicht bezahlte, stellte sehr schnell fest, dass das Kind die Schularbeiten nicht mehr machen konnte, weil das Gerät schwarz blieb. Doch das passierte selten, fast nie.
So konnten Eltern und Lehrer sehen, ob die Kinder den Lesestoff, den sie von den Schulen erhielten, auch wirklich lasen. Das Gerät erfaßte die Zeiten des Umblätterns und trainierte damit eine KI in der Cloud. So konnten die Lehrer und Eltern sehen, wenn ein Kind sich einfach nur durch die Seiten klickte. Der Algorithmus der KI nahm die Zeiten der Schüler auf, kombinierte sie und erzeugte einen Lesegeschwindigkeitsbereich für alle Kinder in dem Alter an dieser Schule. Gleichzeitig erlaubte es den Schulen, sich zu vergleichen und auszutauschen. Welche Bücher lasen die Schüler langsamer, welche Kapitel gingen schneller? Waren es Jungen oder Mädchen die schneller lasen? Homosexuelle oder Asiatinnen, das Gerät erfasste alles, damit die Schulen die Kinder bestmöglich auf die Zukunft vorbereiten konnten.
Die Schule stellte auch die Hausaufgaben auf diesem Gerät bereit, so dass Eltern und Lehrer sehen konnten, ob der Schüler sich diese überhaupt angesehen hatte. Wer das nicht tat, kam auf die öffentliche Schulseite. Denn wenn die Schule schon den Aufwand betrieb, alles für das Gerät von Mt Cook aufzubereiten, und alle Parteien, Eltern, Schule und Verbände, sich einig waren, das Hausaufgaben sein mussten, dann war es nur logisch, die Betrüger zu veröffentlichen. Außerdem folgte die Schule dem Prinzip der vollen Transparenz. Sie veröffentlichte alle Noten aller Kinder auf der Webseite, auch deren Verhalten gegenüber Lehrern und anderen Kinder. Auffälliges und verurteiltes Verhalten stellte die Schule als Video des Missetäters online. Dazu hatte die Schule Kameras in jedem Klassenzimmer, in jedem Flur und auf dem Pausenhof installiert. Die Kameras in den immer dreckigen Toiletten, die Schule wollte die Verschmutzer identifizieren und dann zu Putzarbeiten auffordern, musste die Schule wieder abbauen, nachdem ein paar findige Hackerschüler diese gehackt hatten. Richter verurteilten die Kinder zur höchsten Jugendstrafe, die das Gesetz kannte. Die Schwächen der Überwachung offen zu legen ging gar nicht. Nur damit konnten die Schüler, die Kinder, besser werden und jedes Kind erhielt so eine Chance auf eine berufliche Karriere. Alle waren gleich, an dieser Privatschule in München-Grünwald. Ein massiver Protest der Schülerinnen und der Eltern von Teenager-Mädchen führte dazu, dass die Schule die Kameras nicht mehr aktivierte.
Ein weiterer Vorteil der Kameras war die Möglichkeit der Eltern, jederzeit die eigenen Kinder sehen zu können. Zu sehen, wie sie sich entwickelten, wie sie sich im Unterricht und auf dem Schulhof verhielten und ihnen einfach näher zu sein. Niemand fragte die Kinder, wie sie das fanden.
Außerdem speicherte Mt Cook auf Wunsch der Schule die Daten in der Cloud, falls die Eltern oder die Schule sie später zur Beweisführung von Streitigkeiten benötigten. Das führte dazu, dass Kinder weniger logen, wenn die Eltern fragten, was passiert war.
Melanie war zufrieden. Klausi Schatz hatte in der Geschwindigkeit umgeblättert, die eine KI für dieses Buch für Klausi berechnet hatte. An der ein oder anderen Stelle war er etwas unrhythmisch, aber nicht alle Seiten waren gleich voll und manche Zeilen fielen den Kindern leichter, andere schwerer.
Melanie konnte sich noch gut an den virtuellen Elternabend während der zweiten Pandemie erinnern, kurz nachdem die Schule die Geräte mit der Überwachung des Leseverhaltens eingeführt hatte. Nachdem die Teenager die ersten Kapitel von Kafkas „Der Prozess“ gelesen hatten, kam es zu einem Eklat. Ein Kind hatte ganz offensichtlich betrogen. Es hatte die ersten Kapitel in einem Zehntel der Zeit der anderen Kinder gelesen. Der Vater versicherte der Schule, dass sein Sohn das gelesen und verstanden hatte. Doch die Schule und die anderen Eltern glaubten das nicht. Der Junge musste vor allen digital Anwesenden einen Text lesen und beweisen, dass er alles verstanden hatte. Sie stellten Fragen, zumindest die Eltern, die den Text gelesen und verstanden hatten. Die drei! Danach informierte die Schule Mt Cook bei diesem Jungen den Algorithmus etwas anzupassen. Das führe dazu, dass die KI den Lesegeschwindigkeitsbereich für alle anderen Kinder etwas nach unten angepasste.
An nächsten Tag erhielt Melanie eine Nachricht von der Schule.
Sehr geehrte Melanie,
hier sind die Noten der Klausuren für Klaus der letzten Woche.
Deutsch: 3
Erdkunde: 1
Die Note in Deutsch weicht dramatisch von den früheren Ergebnissen ab. Bitte sprechen Sie mit Ihrem Sohn.
Mit freundlichen Grüssen
Der Schulleiter“
Melanie war überrascht, verärgert, verwundert. Warum war Klaus auf einmal so schlecht in Deutsch. Sie überprüfte nochmals die Hausaufgaben-Statistik des e-Book-Reader. Alles gelesen, alle Hausaufgaben gemacht. Sie verstand es nicht.
Am Abend sprach sie Klausi Schatz darauf an.
„Klausi Schatz, woher kommt auf einmal die Note in Deutsch. Ich habe gesehen, Du hast eine 3. Du warst doch sonst immer so gut in Deutsch.“
„Weiß auch nicht.“
„Ist das alles?“
„Was sonst noch?“
Melanie stöhnte. Teenager. Doch sie hatte keine Zeit ,länger darauf einzugehen, das musste warten. Sie war zu einer Pflichtveranstaltung an der Schule eingeladen worden.
Die Schule forderte alle Eltern zu einer persönlichen Teilnahme auf. Sie lud zu einem „kinderverändernden Event“ ein. ‚Was konnte da noch kommen?‘, dachte sich Melanie. Mit einer 3 in Deutsch konnte Ihr Sohn seine Zukunft vergessen. Fast alle machten mittlerweile Einser-Abitur. Es fing Anfang des Jahrtausends an. Das bedeutete auch, dass mit einem Abitur 2,x kaum ein Studienplatz und auch keine Ausbildungsstelle zu finden war. Und da es das bedingungslose Grundeinkommen gab, hatten die mit Ambitionen Einser-Abis, den anderen war es sowieso egal. ‚Doch so ist Klaus doch nicht!‘, dachte sie bei sich. ‚Bisher hat er sich angestrengt, wollte Physik studieren, war ambitioniert. Was ist da los?‘
Sie wunderte sich auch, dass jemand von Mt Cook eingeladen war. ‚Wahrscheinlich wieder so ein Sales Pitch!‘, dachte Melanie. Sie ärgerte sich darüber, dafür zwangsweise eingeladen zu werden.
Oops, das sah nach etwas Grossem aus. Als Melanie zur Schule kam, sah sie viele Eltern ins Gebäude gehen. Sie dachte, es wäre nur ein Thema für die Klasse. ‚Lesen will gelernt sein!‘, dachte Melanie und musste schmunzeln. Das hatte schon ihr Opa gesagt, als vieles noch analog war.
Melanie setzte sich irgendwo in die Mitte, wo sie niemanden kannte. Sie war nicht in der Stimmung, mit anderen Eltern über deren Genie-Söhne und -Töchter zu reden. Es ging pünktlich los. Der Direktor kam auf die Bühne der Aula und fing an, sein allgemeines Blabla loszuwerden, bis er den, Melanie unbekannten, Vertreter von Mt Cook vorstellte und ihm das Reden übertrug.
Liebe Eltern, Grosseltern, Verantwortliche,
wie Sie sicherlich wissen, arbeiten wir bei Mt Cook immer weiter daran, die Ausbildung für die Kinder zu verbessern. In einer digitalen Welt, in einem Land ohne Rohstoffe, ist die Ausbildung der Schlüssel für ein erfolgreiches und glückliches Leben. Deutschland, als ehemaliger Exportweltmeister und das Land der Dichter und Denker hat das erkannt und gibt bei der Digitalisierung, Algorithmisierung und bei der künstlichen Intelligenz Vollgas. Zum Vorteil Ihrer Kinder.
Bisher haben wir die e-Book-Reader verwendet, um zu sehen, welches Kind seine Schularbeiten macht, wie lange es zum Lesen benötigt usw. Dadurch konnten wir schwächere Kinder identifizieren und ohne grossen Aufwand und ohne das andere sich lustig gemacht haben, helfen, die Schwächen auszugleichen. Wie Sie vielleicht auch mitbekommen haben, waren einige der etwas älteren Kinder sehr clever, und haben nicht gelesen und im Rhythmus weitergeklickt.
Ähnliches sehen wir auch bei Versicherungen und rechtlichen Vorgängen. Wie oft gibt es überlastete Gerichte, die sich damit befassen müssen, was in einem Vertrag steht, den der Kunde nicht gelesen hat und dann ganz entsetzt ist, sich einen Anwalt nimmt und klagt.
Daher haben wir unsere Technologie weiterentwickelt. Unseren neuen Geräte …“
Er hielt ein neues Gerät hoch, das fast genauso aussah wie das alte, aber oben eine kleine dunkle Aussparung hatte.
… haben Eye Tracking eingebaut. Mit der dazugehörigen Kamera und der künstlichen Intelligenz im Gerät können wir genau messen, wo sich die Augen befinden. Erst, wenn die Leserin jedes Wort mit seinen Augen gesehen hat, kann sie umblättern. Erst, wenn sie jedes Wort gelesen hat, kann sie den Vertrag unterschreiben. Damit stellen wir sicher, dass Verträge nur noch unterschrieben werden können, wenn die Kundin wirklich jedes Wort gelesen hat. Und für Sie als Eltern wird es einfacher sein, zu sehen, ob Ihr Kind das zu lesende Buch nur überflogen hat oder nur rhythmisch weiter tippt. Jetzt haben Sie die Sicherheit, dass Ihr Kind wirklich „Den Prozess“ von Kafka gelesen hat. Dass es wirklich die Hausaufgaben gelesen hat. Betrügen geht nicht mehr. Verklagen geht, aber die Chancen zu gewinnen sind damit sehr gering. Wir entlasten Gerichte, Anwälte, die Eltern, die Schule, die Kinder werden das zu Lernende lernen und damit eine Zukunft haben.
Für Sie als Leser von Büchern: Wir können sehen, wo Sie länger benötigen, welche Abschnitte Sie mehrmals lesen, welche Absätze Sie überspringen und so viel mehr. Dadurch können wir Ihnen Bücher zur Verfügung stellen, die Sie wirklich lesen wollen. Wir können identifizieren, wenn Sie dem zustimmen, wie Sie sich bei bestimmten Passagen fühlen, ob sie angeekelt sind, lächeln, konzentriert sind. Unsere ersten Tests haben ergeben, dass die weibliche Leserschaft gerne Kapitel mit Männern liest, die männlich aber auch empathisch sind. Männer lesen gerne kurze, rasant geschriebene Sätze. Das sagen wir den Autoren, so dass sie die Bücher, die Geschichten zu Ihrem Wohle anpassen können. In der Zukunft wird es kein Buch mehr geben, dass sie weglegen und sich ärgern es gekauft zu haben und zu viel Zeit darin gelesen zu haben.
Ich gebe Ihnen jetzt eine Demo.“
Er führte die Demo vor und alles lief wie geschmiert. Manchmal raunte die Aula ein „Oh“ oder ein „Ah“.
Melanie war begeistert. Die nervigen Diskussion mit ihrem Klausi waren zu dem Thema dahin. Es gab keine Lügen mehr, er konnte sich nicht mehr rauswinden. Damit waren sicherlich auch seine schlechten Noten Geschichte, denn ihr Klausi war ja nicht dumm. Nur faul.
Sie vernahm den Vertreter von Mt Cook noch einmal.
Einen habe ich noch. In einer Beta-Version, für die Sie sich individuell anmelden müssen, werten wir die Gesichtsausdrücke aus. Fühlt sich ein Kind gestresst beim Lesen, ist es abgelenkt, entspannt, genervt. All das können wir in der Cloud auswerten. Dazu wird eine Verbindung zu unseren Servern hergestellt, die Bilder der Kinder werden analysiert und die Auswertungen zum Einen an Sie, die Eltern und die Schule, weitergeleitet, zum anderen wird das Kind informiert, wenn es eine Pause machen soll, zum Beispiel wegen Übermüdung. Das kennen wir seit Jahren schon von den Autos. Ein müdes Kind ist nicht aufnahmefähig. Wir optimieren so die Lernzeit der Kinder und sie können so u.a. erkennen, ob Ihr Kind gut geschlafen hat.“
Melanie konnte es nicht fassen. Sie hatte nur eine Frage: Wo melde ich mich an?
Der Mensch von Mt Cook führte weiter aus, dass Versicherungen, Banken usw. diese Technologie getestet hatten und in den nächsten Monaten begännen, sie einzusetzen. Jeder neue Vertrag musste in Zukunft, so ein Gesetz der grossen Koalition aus Rechten, ab dem nächsten Jahr damit gelesen und unterschrieben werden. Doch Melanie dachte nur an Klausi.