Politischer Samstag: Digitalisierung ohne Sinn und Verstand

Wir reden über Digitalisierung, Digitalisierung, Digitalisierung. Ich will nicht auf die katastrophalen Versäumnisse der Regierungen (Bund und Länder) in diesem Bereich eingehen, auch nicht auf die rechtsstaatlich verheerenden Initiativen und Gesetze, die die deutschen Politiker in Deutschland und Europa-weit durchsetzen wollen. Letzteres habe ich schon getan. Sondern ich möchte die Fragen aufwerfen: Bedeutet Digitalisierung auch Internetisierung und muss man wirklich alles Analoge digitalisieren.

Bankomat im Jahre 2021
Für all die, die nicht so IT-lastig sind: Windows NT wurde am 29. Juli 1996 veröffentlicht. Für Insider: Ich war froh zu sehen, dass das Version 4.0 und nicht 3.5.1 war.

Ob das in Deutschland mit Digitalisierung gemeint ist?

Ich arbeite ehrenamtlich an einer Schule um Kindern zu helfen, die u.a. aus einem schwächeren Elternhaus oder aus einem Elternhaus, in dem kein Deutsch gesprochen wird, zu helfen. Chancengleichheit. Nett.

Die Schule digitalisiert. Alles. Alles langsam. Aber vor allem: Alles! Egal wie sinnvoll das ist. Zum Beispiel hat die Schule alle Klassenbücher digitalisiert. Es gibt also keinen Block mehr auf dem Lehrertisch sondern die Einträge nehmen die Lehrer jetzt digital vor, über das Webportal. Ich frage mich, welchen Mehrwert das bietet? Denn die Daten werden nicht ausgewertet, konsolidiert oder sonstwie eingesetzt. Es wurde einfach digitalisiert. Das Analoge wurde ins Digitale übernommen. 1:1.
Zwei Fehler:
1. Analoge ins Digitale überführen ohne den digitalen Mehrwert zu erkennen
2. Etwas zu digitalisieren, was digital keinen Mehrwert liefert. Digitalisierung um der Digitalisierung willen.
Für viele ist digitalisiert gleichbedeutend mit: Ans Internet angeschlossen. Warum muss das Klassenbuch an das Internet angeschlossen werden? Die Digitalisierung hat aber einen für mich spürbaren negativen Effekt: Bisher konnte ich im Klassenbuch nachschauen, was die Themen des Unterrichts waren und welche Hausaufgaben die Kinder in den Fächern aufhaben. Das kann ich nicht mehr. Denn: Ich darf auf das digitale Klassenbuch nicht zugreifen. Angeblich wegen: Datenschutz!!!!!! Natürlich. Anstelle sich mit dem Thema auseinander zu setzen wird pauschal gesagt: Datenschutz. Jetzt muss ich mir von den Kindern sagen lassen, was sie auf haben. Natürlich sagt jedes Kind etwas anderes und am Anfang ging ein Grossteil der Zeit bei Diskussionen zwischen den Kindern, was denn nun die Hausaufgaben sind, drauf.
3. Fehler: Zu digitalisieren und sich kein bisschen mit dem Thema Datenschutz auseinander zu setzen. Für alle Schulleiter, Lehrer und (kommt gleich) Vereinsvorstände: Datenschutz heisst nicht, ich darf keine Daten mehr herausgeben.

Parallel bin ich Trainer in einem Verein. Der Verein ist nicht digitalisiert. Er besteht aus verschiedenen Abteilungen und naturgemäss wollen Kinder mehrere Dinge ausprobieren, sie gehen ins Turnen, dann vielleicht in die Leichtathletik und danach ins Tischtennis. Dafür werden sie am Anfang einmal im Verein angemeldet. Wenn dann ein Kind vom Turnen ins Tischtennis kommt, dann darf es das, es ist ja im Verein. Nur weiss der TT Trainer davon nichts, denn er kann das nirgends nachschauen. Er muss bei der Zentrale anrufen. Dort ist meist niemand, denn die Organisation übernehmen nur ehrenamtliche Teilzeitkräfte, die meist nicht da sind, wenn Training statt findet. Mein Vorschlag: Eine Datenbank, ein Excel, eine App, irgendetwas, auf das wir Trainer zugreifen können. Abgelehnt! Geht nicht wegen Datenschutz. Wieder dieses Totschlagargument von jemandem, der keine Ahnung hat. Wir fragen die Eltern der Kinder bei jeder Neuanmeldung DSGVO-konform, ob und wie wir die Daten verarbeiten dürfen. Das Papier darf ich einsehen, aber wenn es digital vorliegt nicht. Wegen DSGVO? Schwachsinn. So verhindert man Digitalisierung die Sinn macht. Hier hätte Digitalisierung einen Sinn, aber wird aus Unkenntnis und Angst vor Veränderungen und vielleicht auch Angst vor Machtverlust blockiert. Ich kann mir den Mund fusselig reden, keine Chance. Wenn jetzt ein Kind ins Training kommt, muss ich annehmen, dass die Eltern ehrlich sind. Das ist fast immer der Fall, aber eben auch nicht immer.

Digitalisierung heisst für fast alle, aber sicher für alle Abgeordneten: Internet. Im Prinzip wird das Wort Digitalisierung anstelle von Internetisierung verwendet, weil diese Menschen leider den Unterschied nicht kennen. Laut diesen Entscheidern und Wichtigtuern ist es perfekte Digitalisierung, wenn der Toaster einen Internetanschluss bekommt. Ich frage mich nur: Wofür braucht dieser das? Einen Mehrwert sehe ich nicht. Durchaus aber eine Gefahr: Weitere Daten zur Auswertung. Wann toastet er wieviele Toast wie lange. Daraus lässt sich vieles ablesen. Alleine ist das wieder nichts, aber in Kombination mit dem Internetwecker, der Internet-Zahnbürste und der Internet-Kaffeemaschine lässt sich mein ganzes Privatleben abbilden. Ich habe nichts gegen eine Zahnbürste, die mir zeigt, wie gut ich die Zähne putze und die mir am Handy Hilfe gibt, was ich besser machen kann. Meine letzte Wurzelkanalbehandlung lässt grüßen. Aber warum es diese Daten ins Internet senden muss ist mir nicht klar. Das ist der Unterschied zwischen Digitalisierung und Internetisierung.

Oftmals wird bei der Digitalisierung auch der grosse Fehler gemacht, einfach alle analogen Prozesse 1:1 in digitale zu überführen. Siehe Klassenbuch. Man hat das Klassenbuch 1:1 übernommen, anstelle sich zu überlegen, welchen Mehrwert es haben könnte, wenn es digital übernommen wird. Zum Beispiel könnte man Kinderkrankentage auswerten, automatisch, anonym. Einfach um einen Überblick zu bekommen. Der Schulleiter könnte bestimmte Themen für bestimmte Jahrgangsstufen oder Klassen in das Klassenbuch eintragen, zur Hilfe der Lehrer. Nichts.

Nehmen wir ein weiteres, drastisches Beispiel, das den Unterschied zwischen Digitalisierung und Internetisierung aufzeigt. In der Industrie werden sogenannte PLC (Programmable Logic Controller, speicherprogrammierbare Steuerung) verwendet.

Eine speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) füllt eine wichtige Lücke in jedem Prozessleitsystem. Nehmen wir beispielsweise an, Sie befinden sich auf einer Bohrinsel, auf der der Druck einer Zuleitung (einem Rohr) innerhalb eines Bereichs gehalten werden muss. Fällt der Druck ab, dann steht der Prozess und die Firma verliert viel Geld. Steigt der Druck besteht die Gefahr, dass die Ölplattform in die Luft fliegt. Daher muss der Druck an mehreren Stellen gemessen und gemittelt werden. Ausserdem könnte es mehrere vorgelagerte Druckquellen geben, die von Ventilen mit Aktuatoren gesteuert werden. In gewissem Sinne handelt es sich also um ein geschlossenes System mit einer Handvoll Ein- und Ausgängen. Ist seine Funktion einmal definiert, kann und sollte man das System einfach in Ruhe arbeiten lassen (nach dem Motto: Never touch a running system). Aber wie baut man das Steuerungssystem auf? Früher, vor der Zeit der Computer, hätte man eine benutzerdefinierte Schaltung von Grund auf entworfen und gebaut, Hardware. Heute geht man auf die Website von Rockwell Automation und sucht sich die SPS – den Programmable Logic Controller – aus, die gerade groß genug ist, um die Anzahl und die Art der benötigten Ein- und Ausgänge zu verarbeiten. Dann verwendet ein geschulter Ingenieur die Software von Rockwell, Studio 5000 Logix Designer, um den kleinen Computer zu programmieren, der sich im Inneren des robusten kleinen Kastens der industriellen Ölbohranlage befindet.

Dieser Chip ist also ein kleiner Computer der aber nur eine bestimmte Aufgabe erfüllt. Es ist ein sog. Embedded Device, ein eingebautes Gerät, das Teil einer grösseren Anlage ist. Je nach Umfeld können das Hunderte oder Tausende sein, die alle miteinander verbunden werden können. Und sie können sicher sein, hier wird nicht auf Windows gesetzt (SCNR).

Aber natürlich muss man diese SPSs, die eigentlich schon digital sind, digitalisieren. Das heisst, sie bekommen eine Netzwerkschnittstelle. Also die SPS, die die Korken auf die Bierflaschen presst, braucht einen Internetanschluss und bekommt so eine IP-Adresse. Warum, zum Teufel? Was kann schon schief gehen? Vor allem, wenn man das Sicherheitskonzept ansieht. Diese SPSs wurden mit einem Schlüssel geschützt. Top sicher. Dummerweise hat sich die Firma entschieden, den Millionen oder Milliarden SPSs denselben Key zu geben, der die Steuerung schützen sollte. Kennt man den einen, kennt man alle. Und was kann schon schief gehen? Der Key wurde im Internet bekannt und alle SPSs waren plötzlich Angriffen ausgesetzt. Damit können diese Steuerungen für Botnetze aber auch zur Sabotage von Ölplattformen oder Atomkraftwerken genutzt werden. Die Cybersecurity and Infrastructure Security Agency (CISA) der USA hat diese Schwachstelle mit 10 von 10 Punkten bewertet. Also: Schlimmer geht’s nimmer. 10 von 10 vergibt die CISA nur selten.

The vulnerability, tracked as CVE-2021-22681, is the result of the Studio 5000 Logix Designer software making it possible for hackers to extract a secret encryption key. This key is hard-coded into both Logix [PLC] controllers and engineering stations and verifies communication between the two devices. A hacker who obtained the key could then mimic an engineering workstation and manipulate PLC code or configurations that directly impact a manufacturing process.

https://us-cert.cisa.gov/ics/advisories/icsa-21-056-03

Alles zusammen besitzt Deutschland eine schlimme Kombination aus Digitallegasthenie und „Geiz-ist-geil“-Mentalität. Sicherheit und Datenschutz kosten Geld, doch bei uns gilt nur: Billig Billig Billig. Ausserdem, will man pragmatisch digitalisieren, dann digitalisiert man nicht alles schnell billig, sondern überlegt, was man wie digitalisiert, ob es einen Internetanschluss benötigt und wie die Digitalisierung einen Mehrwert zum bestehenden analogen Ablauf liefern kann. Im Moment, so scheint es mir, reicht es aus, einfach das Analoge 1:1 zu digitalisieren. Dann fühlen wir uns wie die Grössten. Oder die Politiker, die die Erfolge vermelden.