Kurzgeschichte: Digitale Zukunft 1

Markus, Ü50, und seine Frau fahren auf der Autobahn mit einem selbst fahrenden Auto in den Urlaub. Sie haben es sich am Abend vorher bestellt, denn niemand hat mehr ein eigenes Auto. Außer den Billionären.

„Du Schatz, wir müssen mal anhalten, ich muss mal raus.“, sagt Markus.

„Was, jetzt schon? Wir sind doch erst seit 45 Minuten unterwegs.“

„Ich weiß.“, sagt Markus zerknirscht. „Ich habe heute morgen vergessen, meine Prostagutt zu nehmen. Und Du weisst doch, ohne die ist meine Prostata wirklich ein Problem.“

Maria stöhnt und denkt sich: Das kann ja heiter werden, so kommen wir nie am Gardasee an. Sie kennt das Thema schon länger, und es nervt sie. Selbst mit den Tabletten ist es nicht mehr so wie früher bei Markus, aber wenn er die auch noch vergisst, dann kann sie einen Wecker alle paar Minuten stellen, so häufig wie er auf eine Toilette muss.

Sie befielt dem Auto, die nächste öffentliche Toilette anzufahren. Die privaten Tempel in Hotels oder Restaurants sind schon lange nicht mehr benutzbar, nicht mal, wie früher, wenn der Notdürftige dafür bezahlt. Zwischenzeitlich hatten die Restaurants Putzroboter, doch sie waren nicht auf die Aufgabe auf Toiletten in diesem Extrem vorbereitet und konstruiert. Als die Regierung dann noch eine Steuer auf digitale Arbeitskräfte erhob, gingen die Restaurantbesitzer und Hoteliers wieder zu billigen Fachkräften aus dem Ausland über. Deutsche wollen diesen Job nicht machen und das Grundeinkommen zwingt sie auch nicht dazu. Doch diese Fachkräfte kosten Geld, bekommen zwei Wochen Urlaub im Jahr und können krank werden. Daher versuchen die Arbeitgeber, diese so spärlich wie möglich einzusetzen, von einem externen Lieferanten, nur bei Bedarf. Und wenn es wirklich nicht mehr geht. Dazu gehört, niemanden von draussen, der nichts ißt, auf die Toilette zu lassen. Manchmal lassen sie auch die zahlenden Kunden nicht drauf.

Schlechte Bewertungen gibt es seit Jahren nicht mehr. Alle Endgeräte überwachen seit Jahren die Sprache und Texte, sowie die Bilder und Videos, wie vor vielen Jahren von Frau Johansson in der EU gewünscht. Ein paar Jahre später kam die Sprachpolizei, die diese Technologie nutzte, um alle Texte auf gendergerechte Sprache zu überprüfen und ggf. anzupassen. Dann einigten sich die Konservativen und die Nazis in der Regierung auf eine positive Sprache, damit die Bevölkerung wieder ein positives Selbstbildnis bekommt und nicht als die jammernden Deutschen gelten. Das führt dazu, dass Bewertungen immer positiv sind, egal was ein Unternehmen auch tut.

Einige findige Entwickler entwarfen eine Blockchain-Lösung für Bewertungen. Um die Sprachpolizei, die schon auf dem Endgerät die Texte anpasst, bei der Eingabe zu umgehen, schreiben die Rezensenten ihre Texte mit veränderter Wortreihenfolge. „Dieses Hotel ist Mist!“, wird zu „Mist dieses ist Hotel.“ Die KI kommt mit solchen Texten nicht zurecht, da sie den Inhalt von Texten nicht versteht sondern nur Wahrscheinlichkeiten kennt. Außerdem findet die KI immer noch keine Texte in dieser Form im Netz und kann daher nicht darauf trainiert werden. Andere Menschen verwenden Dialekte, um die Überwachung zu umgehen. Beispielsweise schreiben die Schweizer, bei einer guten Bewertung: „Des isch Mega.“ Auf alle möglichen Sprachdialekte aller Welt sind die KIs nicht trainiert, da die Texte im Internet in Hochdeutsch oder Oxford-English verfasst sind, oder es zumindest versucht wird.

Das chinesische, selbst fahrende Auto stoppt auf einem Parkplatz kurz vor einem runden Aluminiumgebäude. Mittlerweile sind viele Parkplätze frei, weil die selbst fahrenden Autos fast immer unterwegs sind. Noch nicht alle Parkplätze sind renaturiert oder zu neuen Häusern und Wohnungen umgebaut.

Markus springt aus der Beifahrertür (der Tür zum Bordstein, denn es gibt ja nur noch Beifahrer und keine Fahrer mehr) des Autos und läuft zum Aluhaus. Doch die Tür geht nicht auf. Er zieht, er drückt, er zappelt. Dann sieht er den Aufkleber: ‚Nur mit der CleanToilet-App zu öffnen‘. ‚So ein Mist!‘, denkt er. Öffentlich. Das heißt nur, jeder, der die App des privaten Anbieters hat, kann drauf gehen, aber öffentlich im Sinne von, der Staat kümmert sich, gilt auch hier nicht mehr. Jeder Anbieter hat eine eigene App, verlangt ein eigenes Konto und man muss seine Daten abgeben. Vergleichbar mit den Ladestationen für Elektroautos früher.

Er spurtet zum Auto zurück um sein Handy zu holen, die App aus einem der beiden Stores der zwei grossen amerikanischen Anbieter zu installieren, damit die auch wissen, dass er ein Prostata-Problem hat und ihm dann entsprechende Werbung einblenden, die Versicherungen zu informieren und wer weiß was sonst noch und dann die App mit dem digitalen Bezahldienst zu verknüpfen, um endlich entspannen zu können. Sollte Digitalisierung nicht den Menschen helfen? Diese vermaledeite Prostata.

Als er die Beifahrertür öffnet, fragt Maria:

„CleanToilet?“
„Ja!“

Sie gibt ihm Ihr Handy, auf der die App schon installiert ist. Ihm bleibt keine Zeit zu fragen, wieso. Er spurtet zurück zu dem Aluhäuschen. Er hält das Handy mit der App vor das Türschloss und die Tür öffnet sich automatisch. Langsam, ganz langsam. Als sich die Tür schließt, springt er zur Toilette, öffnet den Hosenschlitz, will die Klobrille hochheben, doch sie lässt sich nicht hochheben.

‚Was zum Teufel?‘, denkt er. Eine Stimme spricht zu ihm.

„Nanana, Markus, ehrlich? Wir wollen doch nicht im Stehen pinkeln, oder? Diese Schweinereien zu beseitigen können die Steuerzahler nicht auch noch übernehmen. Bitte setzen Sie sich zum Urinieren hin, es kommt der ganzen Gesellschaft zu Gute. Denken Sie an die Kinder, die diese Toilette nutzen wollen. Welchen Eindruck sollen sie erhalten, welches Vorbild geben Sie?“

Er schaut sich um. An einer Seite der Alubox ist eine Animation zu sehen, eine Mischung aus Popeye und Bart Simpson. Sie streckt den dicken Popeye-Arm aus, zeigt auf den Toilettensitz und führt den Arm dann runter. Eine Aufforderung, sich hinzusetzen. Also lässt Markus die Hose herunter, setzt sich hin und entspannt sich. Endlich! Endlich läuft es. Oder Gott sei Dank erst jetzt. Es wird bei ihm in solchen Momenten gefühlt immer knapper.

Er sieht das Fach an der gegenüberliegenden Seite. Da wären jetzt die vier Blatt Klopapier, denkt er bei sich. Klopapier wurde in der ersten Pandemie knapp, die wichtigste Firma in der Herstellung boomte, doch ging danach unerklärlicherweise pleite. In der zweiten Pandemie importierte Deutschland Klopapier, das war teuer. Der CO2-Preis usw. Daher sparen die öffentlichen Toiletten daran. Das Klopapier kommt nur heraus, wenn die KI in der Toilette feststellt, dass man es benötigt. Dazu wird das Gesicht gescannt, um zu sehen ob ein Mann oder eine Frau die Toilette benutzt. Alle anderen müssen im Zweifelsfall beten oder selber etwas dabei haben. Die Ausscheidungen werden auf etwaige Konsistenzen und Inhaltsstoffe überprüft. Auch das Gewicht der Ausscheidungen spielt ein Rolle, ob die KI entscheidet, dass der Nutzer Toilettenpapier verdient hat oder nicht. Ggf. wird ein Schwangerschaftstest durchgeführt, wenn die KI erkennt, dass die Nutzerin weiblich und in passendem Alter ist. All diese Daten werden an den Toilettenbetreiber, die entsprechenden Apps und an Werbetreibende gesendet. Je nach Ergebnis noch an Lehrer, Eltern, Ärzte oder die Polizei. Die Junkies gehen nicht mehr auf die öffentlichen Toiletten.

Doch all das reicht noch nicht. Diese Daten werden in Echtzeit mit dem Einloggvorgang verglichen. Nur wenn die Daten der Überprüfung mit denen des Einloggvorgangs übereinstimmen, wird Toilettenpapier gespendet. ‚Glück gehabt‘, denkt Markus. Schließlich hat er das Handy seiner Frau und benötigt kein Klopapier. Oder hat sie die App für ihn installiert? Sozusagen als Plan B. Geht das überhaupt? Die Handys sind doch voll personalisiert. Damit kein Dieb das Handy missbrauchen kann. Schließlich müssen Handys, wie früher nur SIM-Karten, mit einem Personalausweis gekauft werden. Das beugt Diebstählen vor und erhöht massiv die Sicherheit der Bevölkerung, vor allem der Kinder. Außerdem kann das GPS auf Handys nicht mehr deaktiviert werden und jede Position wird alle 30 Sekunden an eine Serverfarm des BKA gesendet (neben den obligatorischen Übermittlungen an Google und Apple, aber daran sind die Nutzer seit Jahrzehnten gewöhnt). So kann immer bestimmt werden, wer sich gerade in der Nähe von Kindern befindet und die Kinder oder deren Eltern werden rechtzeitig gewarnt, wenn sich ein Mensch, meist ein nicht-weisser Mann, der nicht der gewünschten Normen entspricht, einem Kind nähert. Die Menschen wollten das. Lieber einmal zu oft falsch warnen, als einmal zu wenig.

Doch dann erinnert Markus sich an den Familiendienst des Anbieters. Damit können alle Familienmitglieder auf jedem Handy ein Konto haben und die Apps damit nutzen. Dazu muss die Familie nur die Personalausweise hochladen und samt Video-Ident Verfahren mit dem Hersteller abgleichen. Auch das geschieht natürlich ohne menschliche Beteiligung. Aber wehe, wenn es im Raum zu dunkel oder zu hell ist, oder die Familie, Gott bewahre, aus Menschen besteht, die nicht einer ethnischen Gruppe angehören. Dann muss die Familie einen Menschen der Firma über ein sog. SIM-Ticket anfragen und dessen Zeit teuer bezahlen. Der Grundpreis, überhaupt ein Ticket zu erstellen, ist 50€. Danach kostet jede Minute, es wird minutengenau abgerechnet, 5€. Doch danach können alle gemeinsam profitieren. Es ist sicherer, denn der Mann nutzt keine App mehr auf diesen Geräten, um Pornos anzuschauen. Die Kinder schummeln nicht bei den Hausaufgaben, die Frau kann nicht auf Seitensprung.de gehen, ohne dass es auffliegen könnte. Familientransparenz, die alle befürworten, in Politik, die Unternehmen, die Schulen nd die Eltern. Seit dieser Service im System fest integriert ist, steigen die Verkaufszahlen der Handy-Anbieter dramatisch. Nicht ganz ungewollt.

Popeye Simpson reißt Markus aus seinen Gedanken.

„Sie sollten mal wieder Ihren Urologen besuchen. Ihre Werte sind schlechter als letzte Woche. Bitte halten Sie sich an die vom Arzt verordnete Diät.“

Markus verzieht das Gesicht. Mittlerweile kennt er das schon, aber auf einer öffentlichen Toilette? Es gibt nicht mal mehr auf dem Klo Privatsphäre, stellt er mal wieder frustriert fest.

Seit die EU den Digital Health Child Protection Act verabschiedet hat, sind alle medizinischen Daten aller EU Bürger öffentlich. Firmen nutzen die öffentlich zugänglichen Datenbanken, um bessere Profile für Werbetreibende zu erstellen, um die Versicherungsprämien zu individualisieren, damit Kranke den Gesunden nicht zu sehr auf dem Geldbeutel liegen und natürlich, um den Kunden einen besseren Service anzubieten. So weiß Markus jetzt, dass seine Daten schlechter sind und er einen Arztbesuch benötigt. Wer weiß was passiert, wenn er diese Werte nicht kennt oder zu spät und der Schaden noch grösser wird? ‚Diese neue Welt hat schon was Gutes.‘, denkt er sich..

Die Begründung für dieses Gesetz war so einleuchtend wie einfach:

Hätten wir in der zweiten grossen Pandemie in Europa bei jedem Menschen gewusst, wer infiziert ist und wer nicht, hätte jeder Bürger einen Warnton auf seinem Handy bekommen, wenn er in der Nähe eines Infizierten ist, aber immer noch in genügendem Abstand, dann hätten wir weniger Lockdowns benötigt, die Wirtschaft wäre nicht eingebrochen und es wären viel weniger Kinder gestorben. Denken Sie nur an die Studien zur Verbreitung der Viren an Schulen und in Kitas. Es dient dem Schutz unserer Kinder, unseres höchsten Gutes in der Gesellschaft, daher müssen wir alles nur mögliche und denkbare unternehmen, unsere Kinder zu schützen. Das beginnt mir der Gesundheit.“

So die damalige Gesundheitsministerin Ursula von Storch.

Was damit auch einhergeht: Jeder kann von jedem sehen, ob er HIV oder Syphillis oder andere Krankheiten hatte oder hat. Arbeitgeber lassen Gesundheitsprognosen auf der Basis der Gesundheitsdaten für potenzielle Mitarbeiter erstellen. Zukünftige Kollegen können eine Einstellung verlangsamen oder gar verhindern, wenn sie glauben, ihre Gesundheit sei durch den neuen Kollegen, der in Südafrika eingestellt werden soll, gefährdet. Oder sie können sich in ein anderes Team versetzen lassen. Die meisten beantragen sowieso Home Office, das ist am sichersten. Dann musst auch niemand die Griffe an den Toilettentüren anfassen.

Doch es gibt immer noch Firmen, in denen Menschen gemeinsam arbeiten. Diese haben jedoch grosse Probleme, neue Mitarbeiter zu akquirieren.

Da die meisten Menschen von Medizin keine Ahnung haben und in den sozialen Medien massenweise ChatGPT generierte Fake-News im Umlauf sind, und wenn nicht, werden sie einfach erstellt, vereinsamen die Menschen. Denn jeder andere Mensch hat irgendeine Krankheit, die man selber nicht hat, die vielleicht ansteckend sein kann. Der Arzt könnte sich ja täuschen und die letzten Studien dazu? Wer weiss, vielleicht von Kriminellen oder anderen in Auftrag gegeben. Die jungen, gesunden Menschen, geben sich mit etwaigen kranken Menschen erst gar nicht ab, um das Risiko zu minimieren. Home Office ist die Rettung, um ein bisschen Geld zu verdienen. Doch durch das bedingungslose Grundeinkommen ist das nur was für Menschen mit Ambitionen.

Markus will die Alubox verlassen, doch die Tür ist verschlossen. Bevor er fluchen kann, hört er die Stimme von Popeye Simpson wieder.

„Markus, Markus, Markus. Haben Sie während der letzten zwei Pandemien denn gar nichts gelernt? Wir waschen uns jetzt schön die Hände, mit Seife, 20 Sekunden lang.“

Markus schlurft zum Waschbecken. Ein Gutes hat das alles: Die Seifenspender sind immer gefüllt und die Qualität der Seife fühlt sich gut an und sie riecht angenehm. Während er sich also die Hände wäscht, imitiert Popeye Simpson auch ein Händewaschen und summt dabei Happy Birthday. Am Ende kommt ein Piepton und der Wasserfluss am Waschbecken stoppt.

Markus geht zum Händetrockner, wartet ein paar Sekunden und trottet zur Tür. Diese geht problemlos auf.

„Markus. Danke für Ihren Besuch und beehren Sie uns bald wieder. Aber gehen Sie vorher bitte zum Arzt. Wir haben ihn über die Werte schon informiert, eine Termineinladung bekommen Sie demnächst. Wir haben Ihrem Health Score -15 Punkte gegeben, für das nicht-selbständige Händewaschen und die Nichteinhaltung Ihrer Diät. Damit liegen Sie nur noch knapp über 700, einer wichtigen Grenze, wie Sie wissen. Auf Wiedersehen, Markus!“

Markus geht zum Auto, trotz allem erleichtert und steigt wieder auf den Beifahrersitz.